Mark Twain wird das Bonmot zugeschrieben „Prognosen sind schwierig, vor allem wenn sie die Zukunft betreffen“.
Wie Mark Twain habe ich natürlich auch keine Kristallkugel, aus der ich die Zukunft lesen kann.
Grundsätzlich halte ich es mit Perikles: „Es kommt nicht darauf an, die Zukunft vorauszusagen, sondern darauf, auf die Zukunft vorbereitet zu sein.“
Um auf die Zukunft besser vorbereitet zu sein, lassen sich mit Hilfe von Strategic Foresight (Strategischer Vorausschau) eine Reihe von plausiblen Zukunftsszenarien entwickeln, mit unterschiedlichen Wahrscheinlichkeiten und jeweils unterschiedlichen Folgen.
Der Grundgedanke ist, im Sinne von Popper, dass die Zukunft offen ist. Es gibt nicht die EINE Zukunft, sondern verschiedene Zukünfte – je nachdem wie wir handeln.
Strategic Foresight ist die Disziplin zur Vorbereitung auf mehrere mögliche Zukünfte. Ihr größter Nutzen ist es, Handlungsfähigkeit unter Unsicherheit zu sichern.
Im Folgenden möchte ich vier mögliche Zukunfts-Szenarien kurz skizzieren:
Geregelte Mehrpoligkeit: Gesteuerter Wettbewerb und stabiler Multipolarismus
In diesem optimistischen Szenario bündeln Staaten, internationale Organisationen und Gesellschaften ihre Ressourcen, um globale Probleme wie Klimawandel, Pandemien und Wirtschaftskrisen gemeinsam zu lösen. Die USA, China, EU und weitere Großmächte konkurrieren weiter, schaffen aber Regeln, Kanäle und Krisenmanagement-Mechanismen. Es herrscht also Rivalität, aber ohne offenen Großmachtkrieg. Regionalen Konflikten wird mit koordinierten, aber begrenzten Instrumenten begegnet; der Handel bleibt in hohem Maße vernetzt, wobei selektive „Entkopplung“ bei Schlüsseltechnologien stattfindet. Im Bereich Sicherheit und Verteidigung erreichen die USA und die Europäer eine neue Partnerschaft auf Augenhöhe. Die BRICS würden ihre eigenen Interessen verfolgen, wären aber mehrheitlich nicht explizit GEGEN den Westen.
Warum plausibel: Die Kosten eines Großmachtkrieges sind extrem hoch; wirtschaftliche Interdependenz und gemeinsame Probleme (Klima, Pandemien, Finanzstabilität) zwingen zu funktionaler Kooperation. Analysen zu realistischen Koexistenz der USA und China und zu multipolaren Entwicklungswegen stützen dieses Szenario.
Folgen allgemein und für Europa/Deutschland:
- Bessere globale Kooperation und mehr gemeinsame Problemlösungen z.B. bei der Klimapolitik, mehr gemeinsame Standards;
- Gerechtere Verteilung von Ressourcen und Chancen, weniger extreme Ungleichheit;
- Stabilere internationale Ordnung, auch wenn Kompromisse nötig sind.
Der Druck auf Europa, sich im Bereich Verteidigung auf eigene Beine zu stellen, ist hoch und trägt Früchte. Im Fokus stehen Resilienz und Bündnissicherung.
Europa entwickelt sich zum Vorreiter grüner Transformation und profitiert von stabilen Handelsbeziehungen. Deutschland kann seine Industrie auf nachhaltige Innovation umstellen und stärkt so seine Wettbewerbsfähigkeit. Gemeinsame europäische Sicherheitsstrukturen übernehmen wichtige Verteidigungsaufgaben.
Insgesamt ist dies das unwahrscheinlichste Szenario. Es erforderte ein hohes Maß an internationalem Vertrauen und institutioneller Reformbereitschaft, die aktuell angesichts geostrategischer Rivalitäten schwer zu erreichen sind.
Eine Welt der Tech-Giganten
Technologische Durchbrüche dominieren die Weltordnung. Digitale Konzerne und Staaten mit führender Industrie setzen Standards für Künstliche Intelligenz (KI), Biotechnologie und Energie. Dies ermöglicht Produktivitäts-steigerungen und eine nachhaltigere Wirtschaft, die weniger von fossilen Brennstoffen abhängig ist. Innovationszentren entstehen in vor allem in China, gefolgt von den USA, während weniger entwickelte Regionen abgehängt werden. China wäre der dominante Akteur, während die USA einen Teil ihrer technologischen Führungsrolle verlieren und Europa Mühe hat, Schritt zu halten. In seiner extremsten Form würde eine den Menschen dominierende Super-KI die Weltherrschaft übernehmen.
Warum plausibel: Innovation und technologischer Fortschritt spielen eine ständig wachsende zentrale Rolle für Dominanz. Ihre Bedeutung als Grundlage für Macht und Machtausübung in allen Bereichen (politisch, wirtschaftlich, sozial, kulturell) wächst ständig. Autoritäre Akteure setzen sie weitgehend schrankenlos ein.
Folgen allgemein und für Europa & Deutschland
Durch Chinas führende Rolle als Tech-Gigant geraten demokratische Systeme weiter unter Druck. Die europäische Daten- und Netzregulierung wird zum zentralen geopolitischen Wettbewerbsfaktor. Sozialpolitische Spannungen treten auf, wenn Automatisierung Arbeitsplätze verdrängt. Deutschland profitiert von starken High-Tech-Sektoren, muss aber massive Investitionen in Forschung und Bildung tätigen, um Schritt zu halten.
Die Wahrscheinlichkeit dieses Szenarios ist eher moderat. Die hohe Investitionsbereitschaft in Digitalisierung und grenzüberschreitende Tech-Partnerschaften spricht für eine solche Entwicklung. Gleichzeitig ist ihre Eskalation zur Systemkrise ein reales, aber weniger wahrscheinliches Extremszenario.
Dies ist der düsterste Zukunftsentwurf: eine Welt, die im Chaos, in internen Konflikten und in einem grassierenden Autoritarismus versinkt. Multilaterale Organisationen wie die EU oder NATO erodieren oder zerfallen. Staaten handeln zunehmend unilateral. Die größer werdende Zahl von BRICS Ländern beschleunigt mit ihrem Fokus auf nationale Eigeninteressen diesen Prozess. Nationale Egoismen schwächen auch Europa nachhaltig. Russland trägt erfolgreich zur weiteren Spaltung bei und hat eine Reihe von Vasallenstaaten geschaffen. Die Weltwirtschaft steckt in der Krise. Handelskriege und Blockpolitik sind zu Normalität geworden. Der Lebensstandard in den westlichen Ländern sinkt, während schwache Nationen zusammenbrechen. Klimakrise und Migration entgleisen.
Eine zerbrochene Welt
Warum plausibel: Schon heute sehen wir eine Erosion der klassischen Rüstungskontrolle, Blockaden im UN-System, und eine steigende Zahl bewaffneter Konflikte weltweit. Eine Multipolarität ohne koordinierende Mechanismen neigt zur Fragmentierung. Der Munich Security Report und die Risikoanalysen des World Economic Forum beschreiben diese Dynamiken.
Folgen allgemein und für Europa & Deutschland
Europäische Staaten kämpfen gegen Flüchtlingsströme und um die Sicherung kritischer Infrastruktur und Gewährleistung öffentlicher Güter. Es kommt zu Schocks bei der Energieversorgung und bei Lieferketten. Die Verteidigungsausgaben steigen weiter. Deutschland erlebt einen Rückgang seiner globalen Einflussmöglichkeiten und erhöhten Druck auf Sozialsysteme. Nationale Alleingänge ersetzen gemeinsame Politik.
Die Wahrscheinlichkeit auch dieses Szenarios ist eher moderat. Eine Kaskade innenpolitischer Krisen (ökonomisch, ökologisch, gesellschaftlich) könnte multilaterale Strukturen weiter zerstören, wenngleich ein völliger Zusammenbruch weniger wahrscheinlich ist. Ein vollständiger „Anarchie-Zustand“ wäre extrem schädlich, aber besteht als deutliches Risiko, wenn Kooperation weiter erodiert.
Eine konfrontative Welt gekennzeichnet von Blockbildung
Die Großmächte verfolgen primär nationale Interessen und formieren rivalisierende Blöcke. Ein demokratischer geprägter Block (ggf. ohne USA) konkurriert mit einem autoritären, von China und Russland geführten Block, der seinen Einfluss insbesondere durch Netzwerke mit den BRICS verstärkt, die sich als Teil des anti-westlichen Blocks sehen. Die rivalisierenden Blöcke ringen um Rohstoffe, technologische Vorherrschaft und geopolitischen Einfluss. Handels-, Technologie- und Sicherheitskonflikte eskalieren, Finanz- und Rohstoffkrisen verschärfen globale Spannungen. Die Klimakrise verschärft die Migrationsströme nach Europa.
Warum plausibel: Wachsende Spannungen zwischen den USA und China einerseits, die verstärkte „Partnerschaft ohne Grenzen“ zwischen China und Russland (auch als „axis of upheaval“ in Kooperation mit Iran und Nordkorea) andererseits sowie die Schritte zur Erweiterung der BRICs einhergehend mit ihrer weiteren Institutionalisierung liefern die praktische Basis.
Folgen allgemein und für Europa/Deutschland:
- Mehr regionale Konflikte bzw. Rivalitäten.
- Schwächere globale Koordination bei Problemen, die grenzüberschreitend sind (Klimawandel, Pandemien etc.).
- Neue Allianzen und Gegenallianzen.
Europa wird zur „angegriffenen Festung“: Ein starker Ausbau der eigenen Verteidigungsfähigkeit wird nötig, während der Druck auf die Einheit innerhalb der EU wächst. Handelsbarrieren und Wirtschaftssanktionen belasten die deutsche Exportindustrie. Energiesicherheit wird zum zentralen innenpolitischen Thema.
Insgesamt ist dies das wahrscheinlichste Szenario. Steigende Blockbildungstendenzen (USA vs. China, BRICS-Koalitionen) und andauernde Regionalkonflikte begünstigen ein solches Szenario.
Wichtigste Handlungsempfehlungen aus europäischer Perspektive
And now, so what? Ausgehend von dem Szenario mit der größten Wahrscheinlichkeit, hier einige zentrale Handlungsempfehlungen:
1. Strategische Handlungsfähigkeit sichern
- Technologie & Innovation: Europa muss in Schlüsseltechnologien (KI, Halbleiter, Biotechnologie, grüne Energie, Cyberabwehr) eigene Kapazitäten aufbauen.
- Rohstoffe: Die Diversifizierung von Lieferketten (z. B. seltene Erden, Lithium, Halbleiterkomponenten) muss ausgebaut werden, um Abhängigkeiten von China, den USA oder Russland zu reduzieren.
- Sicherheit und Verteidigung: Der Ausbau einer eigenständigeren Verteidigungskapazität (durch EU-Initiativen, eine europäischere NATO oder ggf. sogar eine neue Institution a la Europäische Verteidigungsallianz) muss Europas Abhängigkeit von den USA nachhaltig reduzieren.
2. Handel und Allianzen diversifizieren
- Partnerschaften: Durch den Ausbau von Handels- und Investitionsabkommen mit Regionen wie Indien, ASEAN, Lateinamerika, Afrika kann Europa mehr Handlungsfreiheit erzielen. Ein Schwerpunkt sollte auf Länder mit demokratischen Systemen gelegt werden.
- Diplomatie: Europa sollte seine „balancierende Rolle“ zwischen USA und China stärken, und auch damit mehr Eigenständigkeit gewinnen.
- Nachbarschaftspolitik: Die Stabilisierung und Integration angrenzender Regionen (Westlicher Balkan, Nordafrika, Osteuropa) sollte intensiviert werden, um den eigenen Einflussraum zu sichern.
3. Resilienz gegenüber Blockkonkurrenz erhöhen
- Energieversorgung: Ein weiterer Ausbau erneuerbarer Energien, Wasserstoffwirtschaft, Speichertechnologien, ist notwendig, um nicht erpressbar zu sein.
- Digitale Souveränität: Europäer sollten europäische Clouds, Standards und Plattformen fördern, damit Europa nicht zwischen den Big-Tech-Giganten aus den USA und China zerrieben wird.
- Finanzsystem: Es gilt, den Euro als internationale Reservewährung (z. B. durch digitale Euro-Initiativen) weiter zu stärken, um weniger abhängig vom Dollar zu sein.
4. Europas Soft Power und normative Macht bewahren
- Regulierungsexport: Europa kann Standards setzen (z. B. beim Datenschutz oder der Regulierung von KI, im Bereich der Nachhaltigkeit), die weltweit Wirkung entfalten.
- Klimapolitik: EU sollte Vorreiter für grüne Transformation bleiben und Klimadiplomatie als Soft-Power-Instrument nutzen.
- Multilateralismus: Auch wenn die Welt multipolar ist, kann Europa internationale Foren nutzen, um Brücken zu bauen.
5. Innenpolitische Stärke & Zusammenhalt
- Soziale Stabilität: Ungleichheit und populistische Spaltungen in Europa müssen reduziert werden, sonst wird die außenpolitische Handlungsfähigkeit untergraben.
- Demokratieschutz: Investitionen in Resilienz gegenüber Desinformation, hybriden Bedrohungen und Einflussoperationen (insbesondere aus Russland, China, teils auch den USA) müssen intensiviert werden.
- Erweiterung und Integration: Stärkere EU-Integration in der Außen-, Sicherheits- und Digitalpolitik sollte darauf abzielen, durch nationale Partikularinteressen geschwächt zu werden.
Insgesamt sollte Europa im Szenario einer multipolaren Welt nicht passiv reagieren, sondern sich als ein dritter Machtpol zwischen USA und China behaupten. Dafür braucht es
- Als Grundeinstellung: Mut, Zuversicht und ein Besinnen auf unsere Stärke;
- Einen starken inneren Zusammenhalt – nur gemeinsam haben wir eine Chance!
Dabei sollten wir uns von Mahatma Gandhi inspirieren lassen: „Die Zukunft basiert auf dem, was wir heute tun.“

